LifestyleLifestyleLifestyleLifestyleLifestyle
2.9.2022
Icon Reading Time
6
min

Urbanes Grün

Jetzt nur nicht schlappmachen. Es ist ein heißer Julitag, die Luft über dem Asphalt flirrt. Mit meiner Schwester ziehe ich einen Holzwagen durch Stuttgarts Straßen, auf dem ein junger, schlanker Birnbaum schwankt. Die wochenlange Trockenheit hat die Grünstreifen am Wegesrand zu Stroh gedörrt. Die Sonne sticht. Die Stadt ist ein einziger Backofen. Und wir sind mitten im Thema.

Wie urbanes Grün Städte rettet

Wälder brennen im Sommer 2022 weltweit. Von der Sächsischen Schweiz bis Südfrankreich, von Kroatien bis Kalifornien, von Spanien bis Sibirien. Die mit ihren Moosen und Humusschichten wichtigen Wasserspeicher verrauchen in einem Flammenmeer. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) meldet extreme Trockenheit und regionale Temperaturrekorde. Am 20. Juli klettert das Thermometer in Teilen Norddeutschlands über 40 Grad. Bundesweit sei weniger als die Hälfte des üblichen Niederschlags gefallen, heißt es in einer Pressemitteilung des DWDs. Baden-Württemberg stuft die Waldbrandgefahr im Land als hoch bis sehr hoch ein.

Wanderbaumallee wirbt für Bepflanzungen

Durch die Mittagshitze ziehen wir, Schritt für Schritt, unseren Birnbaum. Hinter uns rollen ein Dutzend weitere Holzwagen, die Maulbeeren, Hängebirken, Mispeln, Quitten, Birnen- und Kirschbäume geladen haben. Eine bunte Gruppe aus Erwachsenen und Kindern schnauft mittlerweile eine steile Straße hinauf, die vom Süden in den Westen führt. Passant*innen schauen verdutzt bis belustigt der kleinen Prozession hinterher. Manche applaudieren, manche fragen, was das soll. Und manche kennen sie schon: die Wanderbaumallee, die sich zwei Mal im Jahr durch Stuttgart bewegt. Organisiert von Ehrenamtlichen, die mehr Grün und Lebensqualität in die Stadt bringen möchten. Vorreiterin ist die Wanderbaumallee in München, die schon seit 1992 mit mobilen Bäumen zeigt, wie wichtig Pflanzen im urbanen Raum sind. Die Stuttgarter*innen haben das Konzept weiterentwickelt und Holzmodule mit Rädern und Sitzbänken ausgetüftelt, in die ein Baum mit Bewässerungssack passt. Mittlerweile beleben auch in Köln, Aachen, Hannover, Schwäbisch Gmünd und Fürth mobile Bäume die Straßen. 

Die Stadtbäume haben Durst

Endlich Schatten. Am höchsten Punkt der Strecke macht die Wanderbaumallee eine Pause. Die einen kühlen sich unter ausladenden Linden bei einer Kreuzung ab, die anderen füllen ihre Wasserflaschen an einem Trinkbrunnen auf. Oder halten gleich den ganzen Kopf unter den frischen Strahl. Wir haben es gut. Das Wasser reicht für alle. Doch die Bäume am Straßenrand gehen schon seit Wochen leer aus. Gießt die denn niemand? „Schwerpunktmäßig werden solche Bäume gewässert, die an besonders trockenheitsanfälligen Standorten stehen. Dazu zählen Bäume an großflächig versiegelten, hitzebelasteten Verkehrsachsen.“ Das erklärt einige Sonnenstunden später das Stuttgarter Garten-, Friedhofs- und Forstamt in einer Mail. Wer noch nie ein städtisches Gießfahrzeug gesehen hat, kann selbst aktiv werden. Das Amt rät: „Idealerweise werden Bäume in den Abendstunden gegossen, so kann der Baum das Wasser über Nacht aufnehmen und es verdunstet weniger durch die Sonneneinstrahlung am Tag.“ Ein großer Straßenbaum vertrage pro Woche 300 Liter Wasser, also 30 volle Gießkannen. Jungen Bäumen sei schon mit 150 Litern geholfen. 

Treffpunkt mit Kühleffekt

Bremsen. Breeemsen! Es geht steil bergab – und dann zuckelt die Wanderbaumallee endlich zu ihrem Standquartier im Stuttgarter Westen, eines der am dichtesten besiedelten Wohngebiete Deutschlands. Unsere Birne steht jetzt mit wippenden Blättern vor einem Café. Dort, wo sonst Autos parken. „Mit den Bäumen möchten wir Treffpunkte schaffen“, erklärt Annika Wixler, die sich im Team der Wanderbaumallee engagiert. Viele in der Nachbarschaft wünschten sich mehr Grün im Viertel, sagt sie. Mal kurz unter einen Quittenbaum sitzen und miteinander schwätzen. Oder sich mit Einkäufen ausruhen. Und das alles ohne etwas konsumieren zu müssen. Das Angebot soll außerdem dazu anregen, mehr Bäume dauerhaft zu pflanzen, was prima fürs Stadtklima wäre. Denn Bäume filtern Staub aus der Luft, binden CO2 und lindern die Hitze. Der Kühleffekt hängt von der Größe der Baumkrone ab, die den Schatten wirft, und von der Anzahl der Blätter. Über deren Oberfläche geben Bäume eine große Menge an Wasser ab, wobei Verdunstungskälte entsteht. Darum ist es im Schatten eines Baums immer angenehmer als unter einem Sonnenschirm. 

„Wir dachten nicht, dass unsere jungen Wanderbäume einen großen Temperatureffekt hätten“, so Annika Wixler. Doch Isabela Tavares hat etwas anderes herausgefunden. In ihrer Masterarbeit hat sie über die Wanderbaumallee und das „grüne Wohnzimmer“, ein Sitzelement mit pflanzlichen Wänden, geforscht. „Anhand eines virtuellen Baummodells haben wir festgestellt, dass es sich für jemanden, der unter einem Wanderbaum sitzt, bis zu fünf oder sechs Grad kühler anfühlt“, sagt die Stadtplanerin am Telefon. Ein ausgewachsener Baum mit großer Krone bringe es sogar auf einen empfundenen Temperaturunterschied von etwa 10 Grad. 

Die grüne Oase ist ausgedörrt

Zwölf Gehminuten von den Wanderbäumen entfernt, begutachtet Paul Rößner den Boden. Er steht in einem begrünten Hinterhof, der staubtrocken ist. Vor 40 Jahren haben dort Anwohner*innen einen Riesenparkplatz verhindert, die Autos in eine Tiefgarage verbannt und stattdessen einen kleinen Park mit Spielplatz anlegen lassen. Mit Hochbeeten voller Tomaten, Kürbissen, Gurken und Kapuzinerkresse. Mit einem Kickplatz und einem Hasengehege. Doch seit Jahren leiden die Pflanzen unter den langen Trockenphasen. Haselnussbäume und Hartriegelbüsche lassen derzeit ihre Blätter hängen, die Kastanien werfen sie gleich ganz ab. „Der Kühleffekt der Bäume funktioniert nur, wenn sie nicht vertrocknet sind“, sagt Paul Rößner. Der Chemiker ist Mitglied der Projektgruppe Stadtbelebung, die sich um den Hinterhof kümmert. Mit dem Gießen kommen sie schon lange nicht mehr hinterher. Und wenn dann doch mal ein Wolkenbruch seine Wassermassen entleert, nimmt der ausgedörrte Boden das Nass nicht mehr auf. Es rauscht, fürs Erdreich verloren, in die Kanalisation. 

Mehr Extremwetter mit Dürre und Fluten 

Im stark versiegelten Stuttgarter Westen gibt es wie im Citykessel besonders viele Wärmeinseln oder „Hotspots“. Das erklärt die Abteilung Stadtklimatologie des Amtes für Umweltschutz in einer Mail. Deshalb ist es dort im Vergleich zu höher gelegenen Stadtbezirken wie Stuttgart Vaihingen bis zu drei Grad wärmer. „Die Region Stuttgart gehört zu denjenigen Regionen Deutschlands, die nach derzeitigem Kenntnisstand von den Folgen des Klimawandels überproportional stark betroffen sind und sein werden“, so die Stadtklimatolog*innen. Auch in anderen Landesteilen treffen Hitzewellen immer häufiger auf Unwetter mit Regengüssen. Der Deutsche Wetterdienst erwartet zukünftig aufgrund der Klimaerwärmung mehr „Extremwetter“ in der Bundesrepublik. Um sich besser vor Überhitzung und Überschwemmungen zu schützen, versuchen viele Orte nun zur „Schwammstadt“ zu werden. Was bedeutet, dass sie viele kleine „Schwämme“ anlegen, um Regenwasser zu speichern. Wie etwa begrünte Dächer und Fassaden, kleine Parks, Senken und Versickerungsanlagen. So fließt das Wasser nicht über Regenrinnen und Gullys in die Kanalisation, sondern bleibt im Boden. Und versorgt später bei Hitzetagen die Pflanzen. 

Ein Hinterhof wird zum „Schwammplatz“

Auch für den Hinterhof im Stuttgarter Westen könnte das Prinzip „Sponge City“, wie die Schwammstadt auf Englisch heißt, taugen. Deshalb haben Paul Rößner und seine Mitstreiter*innen ein Pilotprojekt gestartet und dafür 50 000 Euro von der Stadt genehmigt bekommen. Der „Schwammplatz Hinterhof“ soll nun mit zunächst oberirdischen Zisternen das Regenwasser von drei benachbarten Gebäuden sammeln. Die Regenrinnen führen in IBC-Tanks, weiße Kunststoffboxen mit Metallgitter, die ein Kubikmeter groß sind und 1000 Liter fassen. So könnte man mit Regen- statt kostbarem Trinkwasser die durstigen Pflanzen versorgen. Geplant sind zwölf Tanks, die insgesamt 12 000 Liter speichern können. Wie genau das Wasser ins Erdreich kommen soll, dafür sucht die Gruppe noch nach Lösungen und Leuten, die diese umsetzen. „Wenn wir es schaffen, den Boden feucht zu halten, dann können wir seine Speicherfähigkeit erhöhen“, sagt Raul Rößner. Wichtig sei dabei, das Wasser langsam an den Untergrund abzugeben. 

Die Reise durch die Stadt hat unsere Birne gut überstanden. Nach acht Wochen wird sie wie die anderen Wanderbäume zu einem „Bleibebaum“. Eingepflanzt an einem öffentlich zugänglichen Ort – wie etwa bei einer Kinder- und Jugendeinrichtung oder in einem Gemeinschaftsgarten. Und irgendwann ist der Birnbaum dann so groß, dass sein Blätterdach einen Hitzetag ganz entspannt runterkühlt.

Arrow Icon to enter Aticle

Text von

Annik Aicher

Bilder von

Wanderbaumallee Stuttgart

Werbung

Du hast es geschafft, anscheinend bist du interessiert. Während unserer Recherche haben wir passende Empfehlungen für dich zusammengestellt.

Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt

Du willst Gemüse anbauen, aber lebst in der Stadt?

Kein Problem, in dem Ratgeber des Oekom Verlages erhälst du du viele nützliche Tipps dazu.

Autor: Christa Müller
Titel: Urban Gardening - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt
Verlag: Oekom verlag
Buchform: Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum: 02.03.2011
Auflage: -
Sprache: Deutsch
978-3-86581-244-5

Erkunden*

Urban Gardening - Gemüse anbauen ohne Garten

Auch auf noch so kleinem Raum Gemüse anbauen.

Mit ökologischen und zukunftsträchtigen Ideen.

Autor*in: Yohan Hubert
Titel: Urban Gardening - Gemüse anbauen ohne Garten
Verlag: Ulmer Eugen Verlag
Übersetzer*in: Sabine Hesemann
Buchform: Taschenbuch
Erscheinungsdatum: 21.01.2016
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-8001-1267-8

Erkunden*

Unterstütze Uns!

Helfe uns Felize.com weiter zu betreiben.

Und noch viele Podcast Folgen von ,,Edelreudig"

dem Podcast von Felize zu produzieren.

Scane den QR-Code oder verwende den Paypal-Link.

vielen Dank!

paypal.me/FelizeGmbH

Erkunden*

*Die gezeigten Produkte sind passende Empfehlungen zur Geschichte, sogenannte Affiliate Links. Qualität, Nutzen und Transparenz ist uns wichtig.

Warum Felize gratis ist?

Arrow Icon to enter Aticle

Weitere Geschichten über

Lifestyle