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17.7.2022
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Ausgesandelt - Klimafreundlich bauen

Ein Absperrgitter hier, ein Kran da und ewig schaufelt der Bagger. Lange Zeit sah es so aus, als ob die Bauindustrie jegliche Krise einfach wegbuddelt. Und mithilfe von Unmengen an Beton, Stahl und Glas ihren eigenen Boom weiter und weiter ausbaut. Doch dann kam der Schreck, als klar wurde, dass der Sand knapp wird. Ohne Sand kein Beton. Ohne Beton kein Bau. Ohne Bau kein Leben. Ende Gelände.

Doch das Ende des Gewohnten könnte Platz für einen neuen Anfang schaffen. Und es möglich machen, Architektur neu zu denken. Fassaden aus geflochtener Korbweide oder Schilf, Mauerwerke aus Pilzziegeln, Autobrücken aus Bambus, Holzkonstruktionen mit Strohdämmung, Räume aus Lehm. Naive Utopie von Ökospinnern? Nein, das gibt es alles schon. Das Buch „Pflanzenfaserarchitektur heute“ versammelt 50 preisgekrönte Bauwerke aus aller Welt, die aus nachwachsenden Naturmaterialien gemacht sind. Sie alle haben den Fibra-Award bekommen, den weltweit ersten Preis für zeitgenössische Pflanzenfaserarchitektur.

Schirmherrin der Auszeichnung ist Anna Heringer. Wie schön und inspirierend ressourcenschonende Architektur sein kann, das beweist die Architektin schon seit ihrer Studienzeit. Als Diplomprojekt baute die Bayerin 2005 eine Schule in Rudrapur, einem Dorf in Bangladesch. Mit regionalem Lehm und Bambus. Mit der Hilfe einheimischer Handwerker, mit Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Schülerinnen und Schülern, mit Eltern und Lehrkräften. 2007 wurde die damals 29-Jährige für das ökologisch-soziale Meisterwerk mit dem Aga-Khan-Award for Architecture ausgezeichnet. Es folgten weitere Preise und spektakuläre Gebäude in Afrika, Europa und Asien. Wie etwa drei Gästehäuser in China aus Stampflehm, großen Kieselsteinen und einer gewebten Bambusstruktur. Die Gebilde sehen aus wie luftige Lampenschirme und leuchten im Dunkeln.

Lehm ist Dreck? Nein, Baustoff der Zukunft.

Heute freut sich die Vorreiterin für nachhaltiges Bauen über das große Interesse an der Arbeit mit Lehm. Eines ihrer aktuellen Projekte, ein Gebäude des Bildungscampus St. Michael in Traunstein, hatte das Erzbistum München und Freising ausdrücklich als Lehmbau ausgeschrieben. So etwas hatte es in Deutschland noch nicht gegeben. Trotz Bauprojekte, Lehraufträge, Vortragsreisen und Interviews nimmt sich Anna Heringer die Zeit für einen persönlichen Mail-Austausch mit Felize. „In der Schweiz, Österreich, Frankreich und Deutschland gibt es vermehrt Lehmbauten“, so die Architektin. „Die Zahl der Lehmbauten in Ländern des Globalen Südens nimmt leider ab – aus Imagegründen.“ Lehm gilt häufig noch als schmutzig, ärmlich, hässlich, nicht langlebig. Dagegen steht Beton für viele für den Fortschritt, für ein besseres Leben.  

Aber wenn jetzt verstärkt mit Lehm gebaut wird, geht der Rohstoff, wie derzeit Sand, nicht auch irgendwann aus? „Lehm ist erodiertes Gestein. Und Erosion findet permanent statt“, mailt Anna Heringer. „Derzeit kippen wir Unmengen dieses Materials auf Deponien.“ Die ausgebaggerte Erde aus Baugruben ließe sich dabei prima für neue Gebäude verwenden. Allein für das geplante Metro-Netz „Grand Paris Express“ in Frankreich sollen 43 Millionen Tonnen Aushuberde anfallen.

Getreide pumpt CO2 aus der Luft

Dass Bio-Häuser nicht nur die Bauwirtschaft, sondern auch die Umwelt retten können, davon ist Guillaume Habert in Zürich überzeugt. 2020 hat er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule bei einer Online-Vorlesung gezeigt, wie nachhaltige Entwürfe das Klima schonen. „Auch die Bauindustrie ist für den Anstieg der Treibhausgase verantwortlich“, sagte Habert damals. Rund 40 Prozent des klimaschädlichen Kohlendioxids verursachten Gebäude.

Das Treibhausgas werde zur einen Hälfte bei der Kühlung und Heizung freigesetzt, zur anderen bei der Produktion von Beton, Stahl und Ziegeln. Haberts Lösung: Werkstoffe wie Stroh, Hanf oder Bambus. „Biobasierte Materialien pumpen CO2 aus der Luft“, erklärte er. So nimmt etwa Getreide wie Weizen, Dinkel oder Roggen sehr rasch CO2 aus der Atmosphäre auf. Wenn die Halme dann in einem Strohballenhaus verbaut werden, ist das Kohlendioxid gebunden. Weil Stroh als Nebenprodukt der Landwirtschaft anfällt, jedes Jahr neu wächst, keine chemische Ausrüstung braucht, nahe der Baustelle verfügbar ist und prima dämmt, haben Strohballenhäuser eine sehr gute Klimabilanz.

Die Gäste wollen nicht mehr gehen

Brennt das nicht lichterloh? Schimmelt das nicht? Kommt da kein Ungeziefer rein? Wenn Bernhard Keimel von seinem Zuhause in der Steiermark erzählt, ist die Reaktion immer ähnlich. 2013 hatte er mit seiner Frau und Freunden ein Strohballenhaus gebaut. Lasttragend. Das bedeutet, dass bei dem eingeschossigen Bungalow die Strohballen selbst, ohne zusätzliche Stützen, für die Standsicherheit sorgen. Weil das Weizenstroh so stark zusammengepresst ist, innen ein Lehmputz und außen ein Kalkputz schützt, können weder Viecher noch Feuer Schäden anrichten. „Wir haben ein sehr angenehmes Raumklima“, erzählt Keimel am Telefon. Die Wohn- und Luftqualität sei wunderbar im Haus. „Gäste, die zu uns kommen, wollen gar nicht mehr gehen!“

Zum Haus aus Halmen hatte ihm Virko Kade verholfen. Der Experte aus der Steiermark setzt sich seit zwei Jahrzehnten für das Bauen mit Stroh ein. Als ihm ein Bekannter vor 25 Jahren von Strohballenhäusern in den USA erzählte, war Virko Kade erst skeptisch. „Ich fand das ziemlich verrückt“, sagt er am Telefon. Doch nachdem er sich Literatur über das Thema besorgt hatte, stellte er fest: Stroh ist alles andere als crazy, sondern genial. „Wenn die Bauweise richtig ausgeführt wird und wenn das Dach dicht ist, verrotten die Häuser nicht und halten mehr als 100 Jahre“, sagt Virko Kade.

„Die Menschen sind so begeistert von Stroh, weil der Baustoff begreifbar und verstehbar ist.“


Strohballen, die auf den Feldern liegen, kennen alle. Dahinter steckt keine große, undurchschaubare Industrie, sondern ein Bauer oder eine Landwirtin. Ganz einfach.

Hoch hinaus mit Halmen

Beim Strohballenbau ist Frankreich europäischer Vorreiter. Dank der recht entspannten Baugesetzgebung stehen dort bereits zehnstöckige Häuser. Aber auch in den übrigen Ländern wird es immer selbstverständlicher, mit dem Werkstoff vom Feld zu bauen. „Das Haus des Lernens“, derzeit das größte, strohgedämmte Gebäude Österreichs, hat 2018 seine Türen in St. Pölten geöffnet. Auf rund 1200 Quadratmetern und drei Geschossen sind Büro-, Werk- und Arbeitsräume untergebracht. Das Ganze trägt eine Holzkonstruktion, die mit Stroh gedämmt, Lehm verputzt und Lärchenholz verkleidet ist. Aus Brandschutzgründen führt eine Treppe aus Beton durchs Gebäude. Diese aber ist recycelbar und kann in einem anderen Haus wieder eingesetzt werden.

Das Standardhaus muss nachhaltiger werden

Die vielen umweltschonenden Ansätze müssen jetzt nur noch im „Mainstream“ ankommen. Das meint Felix Heisel, der seit mehr als einem Jahrzehnt zu nachhaltigem Bauen forscht und lehrt. Derzeit arbeitet der Architekt als Assistenzprofessor an der Cornell University im Bundesstaat New York. „Das Standardeinfamilienhaus hat den großen Umschwung noch nicht mitbekommen“, sagt Heisel am Telefon. Um etwas grundlegend zu verändern, brauche es die Hilfe der Politik. Denn lange Zeit habe man sich nur darum gekümmert, wie schädlich und energieaufwendig der Betrieb eines Hauses sei. Also wenn wir Wasser benutzen oder Räume heizen und kühlen. Sehr wichtig sei dagegen, auch die „graue Energie“ im Blick zu haben. Die Energie, die anfällt, wenn wir Baustoffe herstellen, transportieren, lagern und entsorgen.

Bauen im Kreislauf

Am Sinnvollsten sei es deshalb, Häuser als „Materiallager“ zu entwerfen so Heisel. Was bedeutet, dass man alle Teile leicht ausbauen und wiederverwenden kann. Kürzlich hat Felix Heisel mit Dirk E. Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie, ein Buch zum Thema herausgegeben: „Urban Mining und kreislaufgerechtes Bauen. Die Stadt als Rohstofflager“. Beim „Urban Mining“ (engl. für „Bergbau in der Stadt“) werden Rohstoffe statt aus der Natur aus schon vorhandenen Gebäuden entnommen. Doch dabei sind die beiden Forscher auf ein Problem gestoßen: Der aktuelle Gebäudebestand ist nicht für eine Wiederverwendung entworfen worden. „So ist es schwierig, Materialien hochwertig voneinander zu trennen und wiederzugewinnen – mal abgesehen von den giftigen und gefährlichen Stoffen, die ausgegliedert werden müssen“, sagt Felix Heisel. „Wenn ich kreislaufgerecht baue, dann brauche ich kein Urban Mining mehr.“ Das schwäbische Straubenhardt macht gerade vor, wie es geht. Die erste Cradle-to-Cradle-Modellgemeinde Baden-Württembergs hat im Mai 2022 ein neues Feuerwehrhaus eröffnet. Eines der ersten kreislauffähigen, öffentlichen Gebäude bundesweit. Ein kleiner Anfang? Ja, aber mit einer großen Zukunft.

Beton, der keinen Sand verbraucht


Eine Pionierin des baulichen Recyclings ist Angelika Mettke, Professorin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sie hat schon vor mehr als 30 Jahren festgestellt, wie gut sich Beton wiederverwenden lässt. Ihr war aufgefallen, dass im Braunkohletagebau schon nach acht bis zehn Jahren die in Stahlbeton gefertigten Gebäude und baulichen Anlagen abgerissen wurden. Viele praktische Versuche hatten gezeigt, dass man die Betonkonstruktionen zerlegen konnte – obwohl sie so nicht geplant waren. Rechnerische Nachweise und experimentelle Untersuchungen ergaben, dass der gebrauchte Beton keineswegs schlechter war als neuer. Im Gegenteil. Statt mit Materialermüdung zu passen, glänzten die Betonelemente mit Tragfähigkeit.  

Begrenzte Rohstoffe: schon seit den 1970ern bekannt


Mit Dingen sorgfältig und nachhaltig umzugehen, das hat Angelika Mettke schon als Kind erlebt. Ihr Vater, ein Schmiedemeister, machte aus entsorgtem Material die schönsten Kerzenständer, Lampen und Dreiräder und brachte schrottreife Motorräder wieder zum Laufen. „Es ist schon seit den 1970er Jahren bekannt, dass mineralische Baustoffe endlich oder nur begrenzt verfügbar sind“, schreibt Angelika Mettke in einer persönlichen Mail. Ressourcen, die zur Neige gehen, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite Bauabfälle, die 60 Prozent des bundesweiten Mülls ausmachen. Der Weg aus diesem Dilemma? Laut Angelika Mettke brauche es eine Kreislaufwirtschaft, die die gesamte Wertschöpfungskette miteinbezieht. Und Lehrende, die zirkuläres Bauen an Aus- und Weiterbildungsstätten vermitteln.
Der Sand wird knapp. Gut so. Denn es ist höchste Zeit, dass klimaschonende, nachhaltige Architektur aus dem Boden sprießt.

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Text von

Annik Aicher

Bilder von

Liam Martens

Victor

Josh Hild

Niklas Hamann

Bernard Hermant

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