Plastik loswerden
Berge aus Kunststoffmüll wachsen uns über den Kopf. Plastik verschmutzt unsere Weltmeere, macht Menschen und Tiere krank. Warum ein Leben auch ohne PVC und Styropor möglich sein sollte.
In der Wirtschaftswunderzeit herrschte Aufbruchstimmung. Die Zukunft hatte, genau jetzt, begonnen. Und es gab ein Material, dass zum Zeitgeist passte. Es war elegant, modern, formbar, bunt, hygienisch. Und sein Name war flott: Plastik.
Kataloge der 1950er und -60 Jahre preisen haltbare Haushaltshelfer in Bad und Küche an, Spielzeug, das „bruchfest, leicht, leise" ist, schicke Kaffeedecken, Kleider, Krawatten, bügelfrei und adrett. Und alles aus Kunststoff. „Hausfrauen waren sich einig, nicht nur bei uns, sondern ausnahmsweise in der ganzen Welt, dass Plastic-Erzeugnisse ihnen die Arbeit erleichtern helfen“, verkündet eine damalige Werbeillustrierte.
Und heute? Da blicken wir wie hypnotisiert auf den „Great Pacific Garbage Patch“, einen riesigen Plastikmüllstrudel im Meer zwischen Kalifornien und Hawaii, der die vierfache Größe von Deutschland hat. Seevögel und Wale verenden, weil sie sich ihre Bäuche mit Kunststoff vollgeschlagen haben. Von Plastiktüten bis Flip-Flops. Delfine und Robben zappeln hilflos, weil sie sich in alten Kunststoffnetzen verfangen, die durch die Wogen wabern. Mikroplastik aus Putzschwämmen, Fleecepullis, Peelings, Shampoos oder Bodylotions mogelt sich durch die Kläranlagen, breitet sich in Gewässern aus. Und landet über tierische Produkte wieder bei uns auf dem Teller.
Kunststoff: oft eine toxische Beziehung
Angefangen hatte es ganz harmlos mit scheinbar endlosen Erdölvorräten, aus denen sich das Lifestyleprodukt „Plastic“ zaubern ließ. Ideal für die wachsende Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Heute wissen wir, dass Erdölprodukte klimaschädlich, die fossilen Ressourcen nur sehr begrenzt vorhanden sind. Die Langlebigkeit von „Plastic“, die in den Wirtschaftswunderjahren noch gefeiert wurde, wird uns heute zum Verhängnis. Einwegplastikflaschen brauchen beispielsweise rund 450 Jahre, bis sie ganz zerfallen sind. „Die weltweite Plastikproduktion ist von zwei Millionen Tonnen im Jahr 1950 auf jährlich über 400 Millionen Tonnen gestiegen“, ist im Plastikatlas der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2019 zu lesen. Nicht nur die schiere Menge, auch die Herstellung und die Inhaltsstoffe sind schädlich. Besonders viele krankmachende Weichmacher stecken im Polyvinylchlorid, kurz PVC. Die chemischen Stoffe schwächen das Immunsystem und die Fortpflanzungsorgane, greifen Hormonhaushalt, Leber und Nieren an und können Krebs auslösen. Laut der Verbraucherzentrale Hessen sind auch Polystyrol (PS) und Polycarbonat (PC) bedenklich. Polyethylenterephthalat (PET) oder Teflon (PTFE) könnten unter ungünstigen Bedingungen Schadstoffe freisetzen. Als lebensmittelecht gelten dagegen Polypropylen (PP), Polyethylen (PE) und Silikon.
Große Konzerne häufen Plastikmüllberge an
In den vergangenen Jahrzehnten wurden große Firmen immer größer – und überschwemmen heute mit Einwegverpackungen den Planeten. Welche Unternehmen hauptsächlich daran beteiligt sind, das hat das Netzwerk „Break Free From Plastic“(BFFP) in ihrem Fünfjahresbericht „Branded“ veröffentlicht. Mehr als 200 000 Freiwillige auf sechs Kontinenten, darunter auch deutsche Organisationen wie BUND, Nabu, Deutsche Umwelthilfe oder Heinrich-Böll-Stiftung, hatten bei Müllsammelaktionen mitgemacht. Sie klaubten Einwegverpackungen aus Plastik auf und werteten die Marken aus. Das Ergebnis: Der größte Umweltverschmutzer ist Coca-Cola. Platz zwei belegt PepsiCo., dicht gefolgt von Nestlé, Unilever und Mondelēz International. Mit seiner Kampagne möchte das Netzwerk erreichen, dass es verbindliche, globale Verträge gibt, um die Plastikproduktion drastisch zu verringern. Die Unternehmen müssten möglichst bald auf Mehrwegsysteme umstellen, um die Abfallberge wieder abzutragen.
Viele leben nach dem Motto: Aus dem Auge, aus dem Sinn.
Wenn gefeiert wird, landen Einwegverpackungen auf Wiesen und Straßen, in Wäldern und Meeren. Sollen andere sich doch um den Schrott kümmern. So ist auch die Einstellung ganzer Staaten. Westliche Industrienationen haben lange Zeit tonnenweise Plastikmüll zum Recyceln nach China geschickt. Nachdem die dortige Regierung 2018 den Import von Kunststoffabfall verboten hatte, wichen die Exportländer auf Regionen in Südostasien aus. Von der Menge überrollt, wird dort, laut den Umweltverbänden Nabu und WWF, nur wenig Plastik recycelt, dafür mehr verbrannt und auf illegalen Müllkippen gelagert. Von dort gelangt das giftige Gut in Flüsse und Meere. Neue Richtlinien ändern nur langsam etwas am System. Seit 2021 gilt immerhin ein EU-weites Exportverbot für verschmutzte und schwer recycelbare Kunststoffabfälle. Außerdem dürfen in der EU bestimmte Dinge aus Plastik nicht mehr hergestellt und verkauft werden: Einwegbesteck und -teller, Wattestäbchen, Strohhalme, Rührstäbchen, To-Go-Becher und Einweg-Lebensmittelbehälter aus Styropor. 2023 kam in Deutschland noch die „Mehrwegpflicht“ für die Gastronomie dazu. Was bedeutet: Wer etwas zum Mitnehmen anbietet, kann zwar noch Plastikverpackungen verwenden (wenn es kein Styropor ist), muss aber wiederverwendbare Verpackungen auf Lager haben. Kleine Betriebe müssen mitgebrachte Gefäße befüllen.
Papier statt Plastik – nicht immer die beste Lösung.
Plastik ist böse? Dann nehmen wir doch Papier. Die große Werbekampagne von McDonald‘s ging allerding nach hinten los. Die Plakate mit „wunderschönen“ Einweg-Pappbechern bezeichnet die Deutsche Umwelthilfe als „Greenwashing“ und verleiht dafür den Goldenen Geier für die „Dreisteste Umweltlüge des Jahres 2023“. Statt klimaschädliches Einweggeschirr zu bewerben, solle der Fastfoodkonzern auf Mehrweg umstellen, so der Verbraucherschutzverband. Doch wie sieht es mit Verpackungen in Supermärkten und Bioläden aus? Ist da nicht Karton besser als Kunststoff? Nicht unbedingt. Überaschendes hat eine Studie des ifeu-Instituts aus dem Jahr 2021 zu bieten. So waren Nudeln oder Müsli im (unbeschichteten) Papierbeutel zwar umweltfreundlicher als solche in Plastikfolie. Aber die Pasta in der Kunststoffverpackung hatte eine bessere Ökobilanz als die in der Kartonschachtel mit einem Sichtfenster aus Polyethylen (PE). Denn diese schneidet wegen des hohen Transportgewichts und Materialaufwands am schlechtesten ab. Der leichte Einwegplastikbeutel ist 1,5 mal klimafreundlicher als die Einweg-Papiertüte. Dafür schlägt in Sachen Umweltschutz das Erdbeerschälchen aus Karton die Schale aus PET-Plastik.
Am besten ist natürlich die Verpackung, die gar nicht erst hergestellt wird.
Plastikfasten geht privat schon ganz gut. Obst und Gemüse in Baumwolltaschen und Körbe packen, Joghurt im Pfandbecher kaufen, Getränke in Mehrwegflaschen. Den Coffee to go im eigenen Mehrwegbecher mitnehmen. Zahnpasta, Bodylotion, Handcreme, Shampoo, Showergel, Deo-Roller gibt’s mittlerweile ohne Kunststoffverpackung in vielen Drogerie- und Supermärkten, in Unverpackt- und Bioläden. Dort lassen sich auch Kosmetika, Putz- und Spülmittel an Abfüllstationen ins mitgebrachte Gefäß gießen. Doch wie läuft es in Unternehmen, die Waren frisch und bruchsicher verpacken müssen? Deren Workflow schon lange einwandfrei mit Kunststoffen läuft? Die ihre praktischen, preiswerten Plastikhelfer wie Besen mit PVC-Borsten oder reißfeste Polypropylenseile nicht missen möchten? Oder die Polycarbonat und Epoxidharze loswerden möchten, aber schwer an plastikfreie Alternativen kommen? Wer bei der Handwerkskammer oder der Industrie- und Handelskammer (IHK) nachfragt, kommt nicht richtig weit. Bei der Handwerksammer gibt es Broschüren zum betrieblichen Umweltschutz, aber keine zum Thema plastikfreies Arbeiten. Die IHK verweist an das Umweltbundesamt. Da hilft nur eins: selbst recherchieren, nachhaltige Messen besuchen, Netzwerke knüpfen.
Statt Plastikflut Töpfe aus Hanffasern
David Seidemann hat es angepackt. Pro Jahr hatte der Familienbetrieb in Tirol rund 500 000 Plastiktöpfe verbraucht. Einmalpötte für Kräuter und Blumen, die Kundinnen und Kunden später in die gelbe Tonne entsorgt haben. Was viele nicht wissen: Schwarze Plastiktöpfe landen meistens automatisch in der Müllverbrennung. Denn die Sortieranlagen erkennen die dunkle Oberfläche nicht als Recyclingmaterial. Weil Plastikmüll zu Österreichs erster zertifizierter Bio-Blumengärtnerei nicht passte, hat das Team nun umgestellt. „Wir arbeiten vorwiegend mit Holzfaser-Töpfen“, schreibt David Seidemann in einer Mail. „Diese sind maschinenfähig, auch für Kurzzeitkulturen einsetzbar und im Gartencenter direkt vermarktbar. Dieser Topf zersetzt sich ausgepflanzt nach spätestens sechs Monaten.“ Gute Erfahrungen habe er auch mit Töpfen aus Hanffasern gemacht, die sich nach zwei Jahren vollständig im Boden auflösen.
Plastikfreies auf der Weltleitmesse des Gartenbaus
Außerdem verzichtet der Betrieb auf alle Verpackungen aus Plastik – wie Wickelfolie oder Einkaufstüten – und nimmt zum Vorziehen Mehrweg-Kulturtrays. Was noch nicht plastikfrei gelingt: die Pflanzenetiketten. Obwohl sie schon mit Holz, Altpapier und Karton experimentiert haben. Was David Seidemann dagegen freut: Mittlerweile finden sich auf der Internationale Gartenbaumesse IPM in Essen viele plastikfreie Alternativen. Auch wenn manche die Investition noch scheuten, sie lohne sich. „Für kleinere Gartenbaubetriebe, die direkt vermarkten, kann genau diese Umstellung ein Alleinstellungsmerkmal werden“, so Seidemann.
Elektrogeräte, verpackt in Dinkelspelzen
Zum Wandel beitragen möchte auch ein Start-Up in Stuttgart, das mit Dinkelspelzen arbeitet. Schon länger hatte sich die Industriedesignerin Lisa Scherer mit umweltfreundlichen Verpackungen beschäftigt. Schließlich war es ein mit Dinkelspelzen gefülltes Kissen ihres Vaters, das ihre kreative Energie freisetzte. „Wir sind hier in einer Region, in der viel Dinkel angebaut wird“, sagt Lisa Scherer am Telefon. Die Spelzen seien als Werkstoff ideal. Denn die Umhüllungen des Korns, die beim Schälen von Getreide übrigbleiben, würden normalerweise als Abfall verbrannt. Aus den Dinkelspelzen haben sie und ihr Team nachhaltige, regionale Polsterverpackungen entwickelt, die nun statt Styropor empfindliche Waren schützen. Von kleinen Glasflaschen bis zu großen Elektrogeräten. Das Material ist wiederverwendbar und später kompostierbar.
Im 21. Jahrhundert herrscht Aufbruchstimmung. Die Zukunft hat, genau jetzt, begonnen. Und es gibt viele Materialien, die zum Zeitgeist passen. Sie sind elegant, modern, formbar, bunt, hygienisch. Und sie haben viele Namen. Nur einen haben sie nicht: Plastik.
Text von
Annik Aicher
Bilder von
Emiliano Vittoriosi
Acton Crawford
Nareeta Martin
Kenny Eliason
Antoine GIRET
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