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15.12.2023
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Lesen wir noch oder streamen wir bloß?

Wir scrollen, wischen, klicken. Checken Sprachnachrichten auf dem Smartphone. Zappen uns durch Serien und haben Podcasts auf den Ohren. Liest denn überhaupt noch jemand ein Buch? Und wenn ja, wer?

Sonntagvormittag, 11 Uhr. Im Foyer des Stuttgarter Theaters der Altstadt stehen Tischchen und Stühle, es duftet nach Kaffee und frischem Gebäck. Die Gäste, die meisten sind um die 70 oder etwas älter, holen sich Croissants, Kuchen, Lachs, Käse und Brötchen am Buffet. Viele kennen sich – und alle haben etwas gemeinsam: Sie lieben Bücher. „Lesezeichen“ heißt das Format, das die Intendantin Susanne Heydenreich schon seit Oktober 2006 anbietet. Sie und jeweils eine Person aus der Stuttgarter Kulturszene sprechen mit dem Publikum über ihre Lieblingslektüre und lesen daraus vor. 

„Es gibt hier einen festen Kreis älterer Menschen, die mit Büchern groß geworden sind“, sagt Susanne Heydenreich über ihre Besucher*innen. Was die Schauspielerin an Büchern fasziniert: „Man kann Fantasie ins geschriebene Wort legen, ganz anderes als bei Filmen.“ Das bestätigen auch die Damen zwei Tische weiter, die nicht namentlich genannt werden möchten. „Schreiben Sie, wir gehören zu den Stammgästen!“ Eine von ihnen sagt: „Beim Film wird man berieselt, bei Büchern muss man denken.“ Ihre Bekannte nickt und erzählt: „Als Kind bin ich nach Deutschland gekommen und meine Oma hat mir Bücher gekauft. Ich habe angefangen zu lesen, damit ich die Sprache lerne.“

Wer sich aufs Lesen einlässt, kommt in den Flow – und wird glücklich.

Wenn wir gerne lesen, verbessern wir nicht nur unser Vokabular und unsere Konzentration. Wir können auch Signale aus der Umwelt besser wahrnehmen und verarbeiten. Das haben Forscher*innen an der Yale University im US-Bundesstaat Connecticut herausgefunden. In ihrer Langzeitstudie, die sie 2016 veröffentlichten, hatten sie außerdem festgestellt, dass Buchliebhaber*innen oft in einen Zustand des vertieften Lesens kommen. Bei diesem „deep reading“ nimmt man Inhalte besser auf als beim schnellen Scannen von Bildschirmtexten. Wer schon einmal in einem spannenden Lesestoff abgetaucht ist, kennt diesen magischen Effekt. Der Alltag löst sich auf, während sich die Buchstaben auf den Papierseiten in Bilder und Geschichten verwandeln. Für das Gehirn eine unglaubliche Leistung. Wenn wir in einer Tätigkeit völlig aufgehen und alles um uns herum vergessen, sprechen Expert*innen vom „Flow“. Ein Gefühl, das Menschen besonders zufrieden und glücklich macht.

Ganz ins Lesen eintauchen: Das kennt Theaterintendantin Susanne Heydenreich gut.

Bei ihr zu Hause steht ein großes Bücherregal, randvoll mit Schätzen. Die Autor*innen reichen von Hans Fallada über Cormac McCarthy und Robert Seethaler bis zu Juli Zeh. Inspiration für neue Lektüre holt sich Susanne Heydenreich beim Radiosender Deutschlandfunk Kultur. Warum beim „Lesezeichen“ im Theaterfoyer die jüngere Generation fehlt, dafür hat die 69-Jährige eine Erklärung: „Sonntagmorgen um 11 Uhr ist nicht die Zeit für junge Leute. Außerdem laufen heute die anderen Medien dem Buch den Rang ab.“

Lesen Menschen, die mit Büchern und wenigen weiteren Medien aufgewachsen sind automatisch mehr? Und versinken Digital Natives immer weiter in Onlinewelten?

Nicht unbedingt. Neuere Studien fanden Überraschendes heraus. So ist zwar laut Börsenverein des deutschen Buchhandels die Zahl der Buchkäuferinnen in der Bundesrepublik im Vergleich zu 2017 um 18 Prozent zurückgegangen. Doch junge Leserinnen zwischen 16 und 29 Jahren haben sich deutlich mehr Bücher als in den vergangenen Jahren angeschafft. Und dafür auch mehr ausgegeben. Ganz vorne mit dabei sind die 16- bis 19-Jährigen: Sie haben 2022 fast 59 Prozent mehr Bücher erworben als vor fünf Jahren.

Von wegen langweiliger Bücherwurm. TikTok-Videos machen das Lesen auch für Jüngere wieder hip.

Mit für den Aufwärtstrend verantwortlich sind Social-Media-Kanäle wie TikTok. Unter der Rubrik #BookTok findet man dort massenweise Videos, in denen Jugendliche und junge Erwachsene Bücher präsentieren. Und das schnell, witzig, emotional. „Diese Begeisterung fürs Buch ist eine ganz andere Herangehensweise als die klassische Feuilletonliteraturkritik“, sagt Ralf Schweikart am Telefon. Der Germanist ist Vorstandsvorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur, der jedes Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis ausrichtet. „In den Videos spielt das haptische Buch eine größere Rolle als noch vor ein paar Jahren. Die Bücher haben ein attraktives Cover, es geht um Gestaltung, ums Anfassen, Riechen“, so Schweikart. Besonders viel Reichweite habe auf BookTok derzeit Unterhaltungslektüre wie Romance und Fantasy, sagt die Germanistin Andrea Friedel. „Aber es gibt auch den Trend, wieder Klassiker zu lesen“, so die 28-Jährige. „Dark Academia“ nennt sich ein Social-Media-Hype, der dazu beiträgt. Dabei inszenieren sich Teenager als belesen und intellektuell. Gekleidet im Vintage-Universitäts-Stil stellen sie Weltliteratur von Franz Kafka bis Shakespeare vor.

Mediale Verlockungen überschütten die junge Generation.

Neben der „Spiegel-Bestsellerliste“ setzen die Buchläden jetzt auch auf „BookTok Bestseller“. Über 200 Milliarden Aufrufe hat der Hashtag #BookTok aktuell. Ein Traum für die Verlagsbranche, die schon lange um die Nachwuchsleser*innen bangt. Denn die Medienwelt der jungen Generation hat sich in den vergangenen 25 Jahren komplett verändert. Das bringt die JIM-Studie (Jugend, Information, Medien) von 2023 ans Licht. Darin haben die Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg, die Medienanstalt Rheinland-Pfalz und der Südwestrundfunk den Medienkonsum von Zwölf- bis 19-Jährigen im Vergleich zu 1998 untersucht. Früher waren noch Fernsehen und Computer die großen Konkurrenten des Buchs. Heute wetteifern um die Aufmerksamkeit der jungen Zielgruppe viele, viele Anbieter mehr. Wie etwa Youtube, Netflix, Prime Video, Disney+, hunderte Fernsehsender, TikTok, Instagram, Facebook, Musikstreamingdienste, Alexa, Siri, Google Assistent, Bixby, WhatsApp, Snapchat, Spielekonsolen und und und. Besonders angesagt bei der Mediennutzung, so die JIM-Studie, sind derzeit Smartphone, Internet und Musik.

Um so erstaunlicher ist, dass junge Menschen trotzdem noch Zeit finden, zu schmökern.

1998 haben 38 Prozent der Jugendlichen in ihrer Freizeit regelmäßig ihre Nase in Bücher gesteckt, aktuell sind es immer noch 35 Prozent. Dabei lesen Mädchen mehr: durchschnittlich 75 Minuten pro Tag. Die Jungs schaffen es auf 52 Minuten täglich. Der Anteil der Jugendlichen, die nie schmökern, ist gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen, von 15 auf 17 Prozent. Andere Studien haben herausgefunden, dass Kinder, denen zu Hause vorgelesen wurde, später selbst gerne zu Büchern greifen. Doch das Familienritual geht immer mehr zurück. Darauf macht der „Vorlesemonitor 2022“ aufmerksam – eine Bildungsstudie von Stiftung Lesen, „Die Zeit“, Deutsche Bahn Stiftung und Bundesbildungsministerium. 2022 kamen 39 Prozent der Ein- bis Achtjährigen selten oder nie in den Vorlesegenuss, 2019 waren es noch 32 Prozent.

Heute sind Kinder- und Jugendbücher diverser – und Klassiker immer noch beliebt.

„Konkrete Veränderungen in der Gesellschaft tauchen auch in den Geschichten auf“, sagt Ralf Schweikart vom Arbeitskreis für Jugendliteratur.

„Eine größere Rolle spielt heute Diversity, aber auch das Thema Armut wird in unterschiedlicher Weise erzählt. Das war vor zehn, zwanzig Jahren noch kaum Thema.“

Kinderbuchklassiker wie die „Kleine Raupe Nimmersatt“ oder die Bücher von Astrid Lindgren seien immer noch sehr gefragt. Tonio Schachingers Coming-of-Age-Roman “Echtzeitalter”, der den Deutschen Buchpreis 2023 gewonnen hat, sei zwar kein Jugendbuch, so Ralf Schweikart, erzähle aber „Geschichten, die für 15-Jährige spannend sind“.

Wenn wir gestresst sind, lesen wir weniger.

Einen „schleichenden Rückgang des Bücherlesens“ hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels vor allem bei den 40- bis 49-Jährigen festgestellt. In einer Studie von 2018 waren sie als Buchkaufmuffel aufgefallen. Stark im Job eingespannt, klagten sie über Reizüberflutung, Zeitknappheit und das Gefühl der Abhängigkeit von digitalen Medien. Fazit der Studie: Wer gestresst ist, hat es schwerer, sich auf eine Sache ganz einzulassen. Statt ein Buch zu lesen, zappt es sich dann leichter durch Netflix & Co. „Nach einem langen Arbeitstag noch die Zeit fürs Lesen zu finden, ist im Alltag manchmal schwer umzusetzen, sagt Andrea Friedel. Doch sie nimmt trotzdem oft ein Buch zur Hand und merkt, dass sie so am besten entschleunigt.

WG-Lesung mit Bier und Brezel.

Um jüngeren Menschen Lust aufs Lesen zu machen, organisiert Andrea Friedel mit Jule Steinmetz die „zwischen/miete“ des Literaturhauses Stuttgart. Bei dieser Veranstaltungsreihe trifft man junge Schriftsteller*innen in Stuttgarter WGs. Ganz nahbar, bei Bier und Brezeln. „Der deutschsprachige literarische Nachwuchs bekommt hier eine Plattform“, sagt Andrea Friedel. Die Debüts behandeln oft Themen, die gerade für eine junge Zielgruppe spannend sind. Wie etwa der verzwickte Versuch, ohne Internet und Apps zu leben, dem Jenifer Becker in ihrem Roman "Zeiten der Langeweile“ auf den Grund geht.

„Am Anfang waren wir überrascht wie heterogen die Veranstaltung war“, sagt Jule Steinmetz. „Wir dachten, wir sprechen damit nur die typischen Stuttgarter Studis an.“ Für viele spannend sei der „Schlüssellocheffekt“ – der Reiz eines Ortes, an den man sonst nicht hinkommt. „Bei uns ist die Hemmschwelle, mit den Autor*innen ins Gespräch zu kommen, viel niedriger als bei anderen Lesungen“, sagt Andrea Friedel. An Literatur begeistert Jule Steinmetz, dass „sie so gut in Worte fassen kann, was man selbst einmal gefühlt hat. Und sie drückt das aus, was man vorher nie ausdrücken konnte.“

Ran ans Buch – beim Lesen wächst die Empathie!

Und noch eines haben die Forscher*innen der Yale-University entdeckt: Wer Bücher liest, kann seine emotionale Intelligenz und seine Empathie verbessern. Also die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und zu verstehen. Die Psychologie spricht dabei von der „Theory of mind“. Birte Thissen vom NYU Department of Psychology, die über den „Flow beim Lesen“ promoviert hat, mailt aus New York: „Auf Basis von dem, was wir bislang über die Theory of mind beim Lesen wissen, ist anzunehmen, dass Lesen eine Art Simulation von sozialem Erleben sein kann. Im Vergleich zu anderen Medien wie etwa Filmen oder Serien müssen wir beim Lesen mehr „Lücken“ zwischen den Zeilen selbst füllen, um uns in die Geschichte hineinzuversetzen – hier entsteht die Welt der Geschichte ganz in unserem Kopf und nicht auf der Leinwand.“

Deshalb: Auch wenn die neue Serie noch so verlocken ist – doch mal öfter zum Buch greifen. Fantasie entwickeln. In einen Lese-Flow kommen. Und die menschenfreundlichen Hirnregionen beflügeln.

Meine persönliche Lese-Flow-Top-10-Liste (mit Ersterscheinungsjahr):

Alena Schröder, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid, 2022.

Amanda Gorman, The Hill We Climb, 2021.

Wolfgang Herrndorf, Tschick, 2010.

Juli Zeh, Schilf, 2007.

Orhan Pamuk, Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt, 2003

Ulla Hahn, Das verborgene Wort, 2001.

Michael Ende, Die unendliche Geschichte, 1979.

Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen, 1932.

Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, 1896.

William Shakespeare, A Midsummer Night’s Dream, 1598/1600.

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Text von

Annik Aicher

Bilder von

Sebastian Wenzel

Nathalie Stimpfl

L'Odyssée Belle

Erik Mclean

takahiro taguchi

Sebastian Wenzel

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