Raubt uns Instagram den Realitätssinn? Anruf bei einem, der sich damit auskennt. Florian Rehbein ist Professor an der FH Münster und forscht zu Suchthilfe und Suchtprävention. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit den Folgen digitaler Mediennutzung.
Neulich beim Spaziergang. Ich stehe auf einer Aussichtsplattform und lasse meine Augen über die Stadt schweifen. Friedlich liegt sie da, ruhig, als wäre sie für einen kurzen Moment eingenickt. Wäre da nicht der geschäftige Dauerbrummton von Motoren, durch den sich in der Ferne das Tatütata eines Rettungswagens zieht.
Die vorderen Gebäude sind gestochen scharf, die im Hintergrund fasern aus, werden dunstig, verschwommen. Und dann merke ich, wie meine Hand zuckt. Wie sich Daumen und Zeigefinger bereit machen zum Größerziehen. Huch, was war das denn? Kurz vorher hatte ich in meinem Instagram-Account gewischt, Herzchen verteilt, in ein paar Bilder reingezoomt. Aber jetzt stehe ich doch im echten Leben. Der Wind zaust meine Haare, meine Füße spüren Steinplatten. Und trotzdem geht das Wischiwaschi weiter. Auweia.
Raubt uns Instagram den Realitätssinn?
Anruf bei einem, der sich damit auskennt. Florian Rehbein ist Professor an der FH Münster und forscht zu Suchthilfe und Suchtprävention. Dabei beschäftigt er sich unter anderem mit den Folgen digitaler Mediennutzung.
„Unser Gehirn wird durch alle möglichen Lernerfahrungen verändert“
, sagt Florian Rehbein. Zum Beispiel, wenn wir im Supermarkt einkaufen. Das Gehirn hat sich gemerkt, wie wir uns zwischen Regalen und Kühltheken bewegen müssen. Wir wissen, dass wir mit einer Münze den Einkaufswagen von der Kette bekommen. Oder wir sehen das Band an der Kasse und unser Gehirn meldet: Warentrenner auflegen. Florian Rehbein nennt das „inzidentelles Lernen von Routineabläufen“. Wer also längere Zeit über digitale Fotos großzieht, hat das als Handlungsroutine verinnerlicht. Deshalb kann es passieren, dass wir auch Bilder im realen Leben so behandeln möchten. Alarmiert klingt der Experte deswegen nicht. Denn wir lernen schnell wieder um.
2010 kommt Instagram auf den Markt, gedacht, um Fotos zu teilen.
Der Name setzt sich aus Sofortbildkamera (Instant Camera) und Telegramm zusammen. Zwei Jahre später verkaufen die Instagram-Macher Kevin Systrom (ein US-amerikanischer Programmierer) und Mike Krieger (ein brasilianischer Software-Entwickler) ihre Plattform an Facebook. Für eine Milliarde Dollar, rund 760 Millionen Euro. Heute nutzen weltweit rund 1,48 Milliarden Menschen das Netzwerk, in Deutschland sind es knapp 30 Millionen, Tendenz steigend. Die einen feiern die bunte Bilderwundertüte als Inspirationsquelle, die anderen sehen in ihr eine gefährliche, süchtig machende Datenkrake.
Für Daniela Vey gehört Instagram zur täglichen Arbeit. Sie ist keine Influencerin oder Promi-Posterin, sondern Informationsdesignerin. Manche nennen sie auch das „Urgestein der Social-Media-Szene“. Darüber lacht die 41-Jährige, denn das klingt so nach Dinosaurier. Früh interessiert sie sich für die neuen Medien, sieht die Chance, sie beruflich zu nutzen. Schon 2006 legt sie einen Facebook-Account an, wenige Jahre später loggt sie sich bei Instagram ein. Gerade für kleinere Labels und Unternehmen sieht Daniela Vey die Chance, mit Hilfe von Instagram bekannter zu werden. Laut dem jährlich erscheinenden Digital Global Overview Report liegt Instagram nach WhatsApp auf Platz 2 der beliebtesten Plattformen und erreicht schwerpunktmäßig die 18- bis 34-Jährigen.
Doch verbringen wir nicht viel zu viel Zeit mit Social-Media-Apps? Macht die Jagd nach Fototrophäen, nach Likes, Herzchen und Kommentaren nicht ganz schnell süchtig nach mehr?
„Instagram ist ein Werkzeug, es liegt an mir, was ich damit aufbaue“
, sagt Daniela Vey. Laut dem Suchtexperten Florian Rehbein gibt es derzeit nur zwei klinisch anerkannte Süchte, bei der keine Substanzen wie etwa Alkohol oder Nikotin im Spiel sind. Sie heißen Gaming und Gambling, also Computerspielsucht und Glückspielstörung. Ausufernde Social-Media-Nutzung gehöre noch nicht dazu, aber eine „zukünftige Anerkennung als Suchterkrankung sei durchaus denkbar“, so Rehbein.
Eine, die das sicher bestätigen würde, ist Nena Schink. Die Journalistin hat 2020 den Beststeller „Unfollow – Wie Instagram unser Leben zerstört“ geschrieben. Im Auftrag des Jugendportals des Handelsblatts wagte die damals 24-Jährige den Selbstversuch: Eine Karriere als Influencerin starten. Was als hipper Job beginnt, endet mit einer handfesten Abhängigkeit. Sie scrollt, postet, kommentiert, checkt Likes und verteilt Herzen, was das Zeug hält. Sie fotografiert, retuschiert und bombardiert ihre Follower mit Posts, die ihr hinterher peinlich sind. Während sie durch ihr virtuelles Leben hastet, verliert sie immer mehr das reale. Als Nena Schink hinter die filterverschönten Fassaden von „Bloggerinas“ und Influencerinnen blickt, sieht sie Inszenierung und Geldmacherei. Ein Interview mit der vorher so bewunderten Leonie Hanne, derzeit Deutschlands erfolgreichste Mode- und Lifestylebloggerin mit vier Millionen Followern, ernüchtert sie. Die Folge? Entfolgen.
Die Hatz nach Herzchen entfernt so manche Insta-User*innenvon der Wirklichkeit. Und versetzt sie in einen rauschähnlichen Zustand. Dennbei Aussicht auf eine Belohnung schüttet der Körper das Glückshormon Dopaminaus. Viele greifen deshalb immer wieder zum Smarthphone, für einen neuenDopaminkick. „Bei digitalen Medien kann jede Sekunde eine belohnende Nachrichtoder ein anerkennender Like auf uns einwirken“, erklärt Florian Rehbein.
Doch leider nicht nur das. Auch fiese Kommentare,Cybermobbing und Fakenews schwirren blitzschnell im Netz herum. Manche treibtzudem „Fomo“ um, die Angst etwas zu verpassen (Engl.: Fear of Missing out).
Bei so vielen bildhübschen Bildern von aktiven, gutaussehenden, strahlenden Menschen scheint das eigene Leben langweilig und grau.
Gerade für Kinder und Jugendliche kann der falsche Gebrauch von WhatsApp, Instagram & Co. gefährlich werden. 2017 hatte dazu die Krankenkasse DAK-Gesundheit eine Studie veröffentlicht. Die Zwölf- bis 17-Jährigen berichteten von vielen Problemen – von zu wenig Schlaf über Streit mit den Eltern bis hin zu Depressionen und fehlendem Interesse an Hobbys. Medienexpert*innen warnen außerdem vor unrealistischen Schönheitsidealen und Cybergrooming, also sexueller Belästigung in der virtuellen Welt. Wer Kinder hat, sollte deshalb unbedingt mit ihnen über digitale Medien sprechen und gemeinsam Regeln für eine sichere Nutzung finden. Und genau hinschauen, was der Nachwuchs so alles in Timeline und Story wuppt.
Instagram: ein großes Geschäft. Die App sammelt unsere Daten, Fotos und Bewegungsprofile und nutzt sie, um passende Werbung zu schalten. Die Radlerin findet etwa einen Post zur supertollen Fahrradtasche in ihrer Timeline. Der Hobbykoch eine Anzeige für eine megaleckere Biomanufaktur. Influencer*innen können stattliche Summen mit einem einzigen Instagram-Post verdienen.
„Mit über 100 000 Followern ist ein fünfstelliger Betrag in Deutschland nicht abwegig“
, sagt Daniela Vey. Für Unternehmen kann das aber durchaus lohnend sein, meint die Informationsdesignerin: „Mit einer Influencerin buchst du eine Medienagentur mit Reichweite.“ Und das noch maßgeschneidert für die Zielgruppe. Zu teuer? „Eine Anzeige in der Tageszeitung wird auch ganz schnell vierstellig“, so Daniela Vey.
Instagram: eine große Bereicherung. „Ich habe schon tolle Menschen kennengelernt und viele Dinge entdeckt“, sagt Daniela Vey. Darunter Rezepte, Basteltipps für Kinder, Ausflugs- und Urlaubsideen. Auch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder neue Aufträge hat sie sich mit quadratischen Bildern erklickt. Instagram scheint alles zu sein. Ideenexplosion und Zeitstaubsauger, Wohlfühlwiese und Gruselkabinett. Ein Ort für engagierte Menschen, die #lebensmittelretten, #nachhaltigleben, #unverpackteinkaufen, #niemandenzurücklassen. Ein Ort für Banalitäten, Oberflächlichkeiten und viel zu viele flauschige Katzen.
Beim nächsten Spaziergang lasse ich mein Smartphone zu Hause. Ich schaue über die Stadt, fühle Nieselregen auf meiner Nasenspitze. Meine Füße stehen in einer Pfütze. Der Moment ist so gar nicht instagrammable. Aber er fühlt sich großartig an.
Text von Annik Aicher
Links: Instagram & Co. einfach mal abschalten? Bei den Krankenkassen findest du Digital-Detox-Programme und viele Tipps: TK Barmer AOK DAK IKK Classic KKH