Was vor einigen Jahrzehnten noch als höchste Tugend galt, ist heute für die heranwachsende Generation eher Nebensache: Das klassische Arbeitsmodell wird immer mehr in Frage gestellt. Das Bestreben möglichst hart und lange zu arbeiten, um sich einen gewissen Lebensstandard leisten zu können.
Die Anzahl der Arbeitenden, die sich für Teilzeitarbeit entscheiden, wird immer signifikanter. Doch woher kommt diese Verschiebung des Arbeitsmarktes? Die derzeitige Debatte vom Fachkräftemangel sollte doch eigentlich eine andere Reaktion auslösen? Welche Rolle spielen dabei die Phänomene "Quiet Quitting" und "Fridge Hiring"?
Eigenheim, Auto und Urlaub – um sich materielle Dinge leisten zu können, ist vor allem eines nötig: hart und lange arbeiten! Vor allem die Generation der Nachkriegsjahre bzw. die sogenannte Babyboomer-Generation (Zeitraum von 1950 bis 1970) hat diesen Arbeitsethos geprägt. Doch seit einigen Jahren findet ein Umdenken in der Gesellschaft statt. Haben Arbeitnehmer*innen früher noch mehr Arbeit bzw. Überstunden im Kauf genommen, um an die genannten Statussymbole zu gelangen, sind jüngere Berufstätige heutzutage besonders an der Work-Life-Balance interessiert.
Laut einer HDI Berufe-Studie würden 51 % der Teilnehmenden unter 45 Jahren auf eine Teilzeitstelle wechseln, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit dafür geben würde. Im Bundesdurchschnitt wäre sogar ein noch höherer Teil der Befragten (76 %) für die offizielle Einführung einer 4-Tage-Woche. Dieses Modell ist bereits jetzt schon für viele Länder Alltag: Nach einer 3-jährigen Testphase mit rund 2.500 Testpersonen ist die kurze Woche mittlerweile für knapp 80 % der arbeitenden Bevölkerung in Island zur Realität geworden. In Belgien wurde im Februar 2022 die Ermöglichung einer 4-Tage-Woche sogar von der Regierung gesetzlich beschlossen. Anders als in Island geht es aber nicht um eine Reduktion, sondern um einen Verschiebung der Arbeitsstunden. Das bedeutet, dass Arbeitende längere Arbeitstage haben, dafür aber garantiert einen dritten, freien Tag.
Nach den größtenteils positiven Bilanzen (z. B. das Erreichen von mehr Produktivität oder die höhere Zufriedenheit der Belegschaft) zieht auch Portugal nach und startet im Juni 2023 mit einer Testphase. In Deutschland wird schon seit Längerem über eine ähnliche Phase diskutiert, bis jetzt aber ohne konkrete Vorstellungen und Anforderungen. Aktuell sind es hierzulande eher Start-Ups und kleinere Firmen, die die kürzere Woche tatsächlich zur Tagesordnung machen. Ob und wann eine potenzielle 4-Tage-Woche in Deutschland kommt und wie sie umsetzbar wäre, kann zum aktuellen Zeitpunkt keiner sagen. Laut der HDI Berufe-Studie wären jedoch ca. 13 % aller Teilnehmenden bereit, auf einen Teil des Gehalts zu verzichten bzw. hätten kein Problem mit einer Lohnanpassung anhand der gesenkten Arbeitsstunden.
Ein Beschleuniger, der diese neuen Arbeitsmodelle ebenfalls stark vorantreibt, ist die Digitalisierung. Während 2019 nur knapp 45 % der Befragten die Digitalisierung als hilfreichen Vorteil für den Arbeitsalltag einordneten, sind es 2022 bereits 60 % der Studienteilnehmer*innen. Damit einhergehend sinkt trotz der voranschreitenden Digitalisierung die Angst, den Job zu verlieren merklich: Waren es 2019 noch 60 %, die sich mit dieser Sorge beschäftigten, sank diese Angabe auf fast 50 %. Aufgrund des digitalen Vormarschs rückt auch das Thema des mobilen Arbeitens immer mehr in den Fokus. Vor allem junge Berufstätige unter 45 Jahren schätzen diese Arbeitsweise sehr. Ob mobiles Arbeiten, Homeoffice- oder Remote-Regelung, hinter all diesen Begriffen steckt ein ganz bestimmtes Prinzip: Die konkrete Mitbestimmung, wo genau, wann und wie das Arbeitspensum absolviert werden soll.
Davon abgesehen ist neben der genannten Selbstbestimmung ein weiteres Phänomen in der Arbeitswelt aufgetreten, das vor allem bei jetzigen Berufsanfänger*innen beobachtet werden kann. Expert*innen sprechen vom sogenannten „Quiet Quitting“. Das bedeutet nicht, dass schon mal über eine mögliche Kündigung nachgedacht wird, sondern, dass Beschäftigte nicht über das Arbeitsminimum hinausgehen. Überstunden oder zusätzliches Engagement steht auf keinster Weise im Fokus. Dass aber genau diese Punkte in der traditionellen Arbeitswelt noch fest verankert sind, zeigt eine Studie des statistischem Bundesamtes. Hiernach gaben 12 % der Arbeitnehmer*innen an, dass sie in 2021 Überstunden geleistet haben.
Demzufolge haben über 4,5 Millionen der deutschen Beschäftigten Mehrarbeit auf sich genommen, ohne dass das vertraglich von ihnen verlangt wurde. Doch gerade junge Arbeitnehmer*innen wollen das nicht mehr. Das zeigt sich auch darin, dass sich die Bedeutung und die Wichtigkeit des Jobs bei den unter 45-Jährigen in den letzten Jahren drastisch verändert hat. 42% dieser Gruppe stimmten der Aussage zu, dass sie sich ein Leben ohne Beruf durchaus vorstellen können. Vor 2 Jahren lag dieser Wert noch bei lediglich 31 %. War früher der Beruf noch das Nonplusultra, setzt die junge Generation einen ganz anderen Schwerpunkt. Die Work-Life-Balance steht hoch im Kurs. Nicht nur das Augenmerk auf mentale und physische Gesundheit ist hier besonders essentiell, sondern auch die eigene Selbstverwirklichung sowie der Stellenwert von sozialen Komponenten wie Familie und Freunde.
Diese Denkweise bringt jedoch auf langer Sicht die deutsche Wirtschaft in eine Bredouille: Der Fachkräftemangel weitet sich immer weiter aus und das mittlerweile in allen Branchen und Berufszweigen. Das sorgt gerade in der Personalabteilung vieler Unternehmen für ein grundsätzliches Umdenken: Laut einer Umfrage eines großen Jobportals mit knapp 400 Personalabteilungen kommt es immer häufiger vor, dass neue Mitarbeiter*innen eingestellt, um den zukünftigen, aber nicht den derzeitigen Bedarf abzudecken. Diese Strategie des „Fridge Hiring“ wird angewendet, um begehrtes Personal vor der Konkurrenz zu sichern. In der Umfrage geben mehr als 80 % der Personaler*innen an, schon mal so gehandelt zu haben. Jeder Zehnte hat dabei schon gute Erfahrungen gemacht und wendet dementsprechend diese Art des vorzeitigen Einstellens in der Praxis häufiger an. Die Angst vor bevorstehenden Leerstellen bei sehr gefragten Positionen und Berufen ist oft eng verknüpft mit einem geplanten Ausbau des Unternehmen oder dem Erreichen des beabsichtigten Wachstums des Mitarbeiterzahl.
Aktuell kann nur spekuliert werden, wie der zukünftige Arbeitsmarkt aussehen wird. Fest steht aber jetzt schon, dass die Generation, die ins arbeitsfähige Alter kommt, ganz explizite Forderungen an die Berufswelt stellt. Wie Arbeitgeber*innen und Personaler*innen darauf reagieren, wird sich zeigen. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die unter 45-Jährigen eine große Macht besitzen, um den Arbeitsmarkt zu revolutionieren und von alten, viel zu lang gelebten Standards zu befreien.
Text von
Eric Figura
Bilder von
Christin Hume
Marten Bjork
Kristin Wilson
Marvin Meyer
Helena Lopes
Priscilla Du Preez
Clem Onojeghuo
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